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Jüdisches Leben
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Beitrag vom 01.06.2006
Dynamisch. Judentum lässt sich nicht mit einem statischen Begriff definieren
Elisa Klapheck
Vielmehr entfaltet sich Judentum in unterschiedlichen gesellschaftlichen Realitäten und Begriffen immer wieder neu. Woran liegt das? Ein Beitrag von Rabbinerin Elisa Klapheck
"Sind Sie Deutsche oder Jüdin?"
Das werde ich oft gefragt. Und auch: "Sind Juden eine Religion oder ein Volk?"
Der Fragende möchte eine Definition von dem, was "jüdisch" ist. Jedesmal empfinde ich dasselbe Unbehagen. Die meisten Juden sind weder religiös, noch fühlen sie sich wirklich volkszugehörig in dem Sinne, dass sie zum selben Volk gehörten wie etwa russische Juden, amerikanische Juden oder israelische Juden.
Aber auch in Zeitungen wie der "Jüdischen Allgemeinen" gibt es regelmäßig Debatten darüber, wer und was wir sind: "deutsche Juden", "jüdische Deutsche", "Juden in Deutschland" oder neuerdings "europäische Juden"?
Irgendetwas stimmt schon im Ansatz nicht, Judentum definieren zu wollen.
Definitionen für Begriffe wie "Volk" oder "Religion" haben zumeist etwas Begrenzendes. Es kommt dabei etwas Statisches, Starres - so etwas wie ein Gehäuse heraus. In der jüdischen Geschichte haben sich die Begriffe jedoch fortwährend geändert. Mal gehörte man einer Sippe, mal einem Stamm an, mal war man ein Volk, eine Nation, eine Religion oder ein Bekenntnis - man ist alles schon mal durchlaufen, hat von allem etwas in die Gegenwart mitgenommen, ohne dass es dabei allein geblieben wäre.
Eine befreundete Professorin der Judaistik veranstaltete unlängst einen Kongress: "Judentum als Zivilisation". Noch ein Begriff! Er passt gut in unsere Zeit. Aber auch er wird nur teilweise funktionieren.
Es zeigt sich, dass sich Judentum nicht mit einem statischen Begriff definieren lässt. Vielmehr entfaltet sich Judentum in unterschiedlichen gesellschaftlichen Realitäten und Begriffen immer wieder neu. Woran liegt das?
Ich sehe Judentum inzwischen in erster Linie dynamisch. Es "ist" nicht "etwas" - es "wirkt" vielmehr in etwas herein. Es wirkt, indem es die bestehenden Regeln und Auffassungen in Frage stellt. Ob es das Erstgeburtrecht des ältesten Sohnes ist, wie bei Jakob und Esau, ob es eine hierarchische Gesellschaft mit Sklaven auf der untersten Stufe ist, wie im pharaonischen Ägypten, oder ob es die Dominanz der Mehrheit ist, der gegenüber sich die Diaspora-Minderheit behauptetet. Zu allen Zeiten und unter allen Gegebenheiten stellte das Judentum das bestehende Gehäuse in Frage und entwickelten seine Träger hierfür Ausdrucksformen - ob kultisch, spirituell oder intellektuell.
Nicht jeder Jude ist dabei gleich aktiv. Aber allein schon seine Existenz stellt das allgemein Angenommene in Frage. Und übrigens: auch andere können mitmachen. Man muss nicht offiziell Jude sein, um jüdisch in die Gesellschaft hineinzuwirken.
Mehr zu Rabbinerin Elisa Klapheck im Interview mit AVIVA-Berlin von 2004.
Lesen Sie auch mehr über Elisa Klaphecks Buch So bin ich Rabbinerin geworden.
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